Zur Sitzung des Kreisausländerbeirates am 19.05.2015 wurde ich als Kandidat der Piratenpartei eingeladen, um mich selbst kurz vorzustellen und einige Fragen des Kreisausländerbeirates zu beantworten. Diese Fragen habe ich zunächst selbständig beantwortet, anschließend der Basis als Diskussionsentwurf zur Verfügung gestellt und schließlich im Rahmen einer Telco gemeinsam mit der anwesenden Basis sowie unseren Mandatsträgern im Kreis finalisiert.
Kurzvorstellung
Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen. Diese kam als vom Krieg traumatisierte heimatvertriebene Sudetendeutsche in einem Viehwaggon nach Hessen, musste sich bei der Ankunft mit den anderen Heimatvertriebenen in einer Reihe im Dorf aufstellen und die Bauern, die sich dann vor der Zwangszuteilung noch Vertriebene aussuchen durften, gingen die Reihe auf und ab, spuckten die Menschen an und beschimpften sie. Ich kenne auf einer sehr persönlichen Ebene die Langzeitfolgen der Vernachlässigung traumatisierter Menschen, die ihre Heimat verloren haben. Was ich aber z.B. bei Frage 3 thematisiere, entspringt wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ansonsten wende ich die Positionen der Piratenpartei auf die kommunale Ebene an.
Als Mensch, der eine Zeit lang als sogenannter Auslandsdeutscher in den Vereinigten Staaten von Amerika gelebt hat, bringe ich zudem eine andere Perspektive mit in den Diskurs.
1. Welche Vision haben Sie zum Umgang mit Flüchtlingen? Welche Standards sind Ihnen wichtig?
- In meiner Vision verstehen Menschen, dass kein Mensch illegal ist.
- Der alte Artikel 16 GG wird wiederhergestellt.
- Asylsuchende können sich frei in der EU bewegen.
- Es gibt keine Abschiebehaft mehr.
- Asylbewerber haben einen gleichberechtigten Anspruch auf Sozialleistungen, nicht ab Tag 1 und nur bei rascher Bearbeitung der Fälle (um der Problematik von Wirtschaftsflucht zu entgegnen).
- Drittstaatler können kommunal wählen.
- Der Landkreis bekommt einen Flüchtlingsbeirat, der ähnlich wie der Ausländerbeirat antragsberechtigt ist.
- Flüchtlinge bekommen einen raschen Zugang zu den ortsansässigen Vereinen, denn das Vereinsleben trägt zur Integration bei und Menschen haben ein Anrecht auf Aktivität und soziale Einbindung.
- Flüchtlinge bekommen rasch Zugang zum Internet (“Digitalisierung der Dorfkneipe”), denn damit können Sie zum einen eigenständig Deutsch lernen, zum anderen Kontakt mit Familie und Freunden im Ausland pflegen.
- Flüchtlingslotsen dienen als kompetente Ansprechpartner.
2. Welche Vorschläge haben Sie für eine bessere Aufnahme von Menschen mit Migrationshintergrund (auch solche, die hier schon länger leben) in den Arbeitsmarkt?
- Wir Piraten setzen uns für anonymisierte Bewerbungsverfahren ein, so dass Alter, Geschlecht und Herkunft als Auswahlkriterien wegfallen.
- Zudem fordern wir eine vereinfachte Anerkennung von ausländischen Berufs- und Bildungsabschlüssen. Für diesen Punkt sehe ich jedoch internationale vertragliche Regelungen zur gegenseitigen Anerkennung von Bildungsabschlüssen als erforderlich. Das wird ein Landrat leider nicht leisten können. Als Pragmatiker finde ich die in dem Nachbarkreis praktizierte Talentsuche mit Interessen- und Fähigkeitencheck sinnvoll und würde als Landrat in das gemeinsame Projekt “Chance Arbeitsmarkt” der Landkreise Lahn-Dill und Limburg-Weilburg einsteigen.
3. Welche Wege zur Verbesserung der Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund sehen Sie?
Bildung beginnt bereits zu Hause, also noch vor einem eventuellen Besuch von Kitas und fällt somit auch schon in den Verantwortungsbereich der Eltern. Ihrer Verantwortung können die Eltern von Migratenkindern jedoch nur gerecht können, wenn Sie selbst über ausreichende Sprachkompetenzen verfügen. Idealerweise sollte als erstes den Eltern von Migrantenkindern geholfen werden der deutschen Sprache mächtig zu werden. Ich erkenne hier also einerseits die Notwendigkeit von Sprachkursen, andererseits können Kommunen in Zeiten der Rettungsschirme ihrer Verantwortung vor Ort kaum mehr Rechnung tragen. Kommunen könnten aber zumindest Freiwilligen, die sich bereit erklären “Deutsch zu unterrichten” eine gewisse Anerkennung zollen. Das würde dazu beitragen, dass die Eltern ihren Kindern ggf. bei Hausaufgaben helfen oder sich besser mit den Lehrern verständigen können.
Nach dem schlechten Abschneiden Deutschlands bei der PISA Studie, wurde der Blick auf die besser abschneidenden Staaten Skandinaviens gelenkt und bemerkt, dass diese bereits im Bereich der frühkindlichen Bildung kostenlose Bildung anbieten, so dass der Status der Eltern bereits beim Einstieg in den Bildungsprozess keine Rolle mehr spielt. Der Besuch von Kitas bleibt in Deutschland jedoch vor allem Kindern von armen Eltern verwehrt. Durch die Herdprämie wollte man zuletzt über eigene Unzulänglichkeiten bei der Verbesserung der frühkindlichen Bildung hinwegtäuschen. Eine Forderung der Piraten ist es daher, kostenlose Kitas allen Kindern zu ermöglichen.
Kitas fördern die Integration in allen Aspekten, insbesondere aber im Bereich der Sprache.
Daher gilt es folgendes im Kreis zu kommunizieren, zu prüfen und umzusetzen: Die Gruppen sollen am Besten so gemischt sein, dass Kinder, die eine bestimmte Muttersprache haben, nicht in dieselbe Gruppe kommen, es soll ihnen aber auch nicht untersagt werden, in ihrer Muttersprache untereinander zu kommunizieren. Das würde nur dazu führen, dass die Kinder ihre Sprache als nicht willkommen erachten und sich folgedessen ausgeschlossen fühlen. Kein Erzieher oder Lehrer darf dabei vergessen, dass Sprache eine äußerst emotionale Angelegenheit ist, sie vermittelt Sicherheit. Wenn Kinder sich in der Umbegung Kita oder Schule sicher fühlen, werden sie sich von sich aus, wie ihre deutsche Mitschüler, der deutschen Sprache bedienen. Sie wollen letztendlich auch zu der Gruppe gehören.
Im schulischen Bereich wurden gute Ergebnisse durch Intensivkurse/Intensivklassen erzielt, d.h. Kinder verbringen ein Jahr mit intensivem Deutschunterricht, nehmen in Fächern, in denen keine ausgeprägten Deutschkenntnisse benötigt werden, am Regelunterricht teil (z.B. Sport, Musik, Kunst) und werden im Laufe des Jahres in den Regelunterricht integriert. Im Anschluss erhalten sie Förderkurse. Auch die beschlossene Beteiligung an dem “Pakt für den Nachmittag” kann der Integration förderlich sein.
4. Gesundheitsfürsorge: Asylbewerber bekommen nur die nötigste Mindestversorgung. Sehen Sie Möglichkeiten einer angemessenen medizinischen und psychologischen Betreuung von z.B. Krebskranken oder kriegsversehrten Flüchtlingen durch den Landkreis?
- Der Landkreis sollte aufgrund der außerordentlichen finanziellen Belastung, die ihm durch die voerantwortungsvolle Obhut über die Flüchtlinge entsteht, dafür einsetzen, über den Rettungsschirm hinausgehende finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen, so dass der Zuordnungsschlüssel für die Erfüllung der Pflichtaufgaben vom Land erhöht wird.
- Die Gesundheitskarte muss rasch umgesetzt werden.
- Grundsätzlich würde ich mich als Landrat jedoch dafür einsetzen, dass Flüchtlinge in die Gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen werden.
- Ein über die o.g. Versorgung hinaus gehendes Problem ist der Zeitaspekt bei Gutachten, der bei anstehenden Abschiebungen äußerst kritisch ist.
5. Interkulturelle Öffnung der Verwaltung: Welche konkreten Vorschläge und Vorstellungen haben Sie?
Ich stelle mir eine interkulturelle Öffnung als subsidiaren, mehrstufigen Prozess vor:
- Anpassung verwaltungsinterner Abläufe
- Moderne Kundenorientierung
- Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe bieten
- Barrieren abbauen
- Sprachliche Verständigungsschwierigkeiten
- Kulturell bedingte Verständnisschiwerigkeiten
- Informationen und Ansprüche leichter abbilden durch leichte Sprache
- Mehrsprachigkeit
- Informationsmaterial
- Interne Beschilderungen
- Sprachkurse für MitarbeiterInnen
- Erhöhung des Anteils von Beschäftigten mit Migrationshintergrund
- Studien zeigen Benachteiligung im Auswahlprozess bei Hinweis auf Migrationshintergrund
- Subsidiare Prozesse
- Externe, neutrale Expertise in Auftrag geben
- Mitarbeiterbefragung
- Kundenbefragung
- Multiplikatorenbefragung
- Nachhaltigkeit
- Langfristige Evaluation
- Dokumentation
- Kontinuierliche Rückkopplungspozesse
- Entlastungspotential für Mitarbeiter identifizieren
- Weitreichende Vernetzung
- Mitarbeiter (intern über Arbeitsgruppen hinweg)
- Multiplikatoren
- Überregional (Erfahrungen in anderen Landkreisen)
- Integrationsbeauftragte in den Kommunen
- Interkulturelle Kompetenzen der Mitarbeiter aufbauen und erweitern
6. Sind Sie dafür, dass der Landkreis mehr minderjährige unbegleitete Flüchtlinge im Kreisgebiet aufnimmt und betreut (derzeit leben die meisten in Gießen)?
Die Piratenpartei setzt sich für die dezentrale Unterbringung von Asylbewerbern ein.
Da es eine Aufgabe des ganzen Kreises ist, Flüchtlinge zu versorgen, sollten die Kommunen daran auch entsprechend beteiligt werden. Jugendliche Flüchtlinge haben jedoch besondere Erfordernisse und eine langfristige Betreuung erscheint mir nötig. Daher und weil wir ja alle wissen, wie schlecht die ärztliche Versorgung auf dem Lande ist und wie schlecht der ÖPNV teilweise ist, bin ich der Auffassung, dass den Flüchtlingen, die oftmals traumatisiert sind, eine bessere Versorgung in Gießen zukommen kann (aber dennoch dezentral in der Stadt).
Jugendliche Flüchtlinge sollten zudem altersadäquat untergebracht werden. Der Landkreis könnte z.B. eine Vermittlungsplattform oder eine App für WGs (Studis, Azubis) zur Einbindung an das Bildungssystem an den Start bringen. Minderjährige Flüchtlinge in abgelegenen Gemeinden unterzubringen entspricht wahrscheinlich nicht ihren Bedürfnissen.
7. Was liegt Ihnen am meisten am Herzen? Wofür würden Sie sich als Landrätin / Landrat besonders engagieren?
Es berührt mich persönlich, dass deutsche Regierungspolitik von vielen Menschen im In- und Ausland euphemistisch als kaltherzig empfunden wird.
Ich würde mich somit zum einen für die Schaffung von Kreispartnerschaften mit Regionen in Krisenländern einsetzen und zum anderen vor Ort sofort stoppen, dass Hartz-IV-Familien weiter aus ihren Wohnungen herausgedrängt werden und die interkulturelle Öffnung des Landkreises forcieren.
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